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Elektronischer Sekundant
Ein Fidelity-Computer bei der Schach-WM in New-York
(Bericht von CSS 1990)

Zum Ersten Mal in der Geschichte der Schachweltmeisterschaften ist bei der diesjährigen Begegnung Kasparov-Karpov ein spielfähiges Computerprogramm als Sekundant beteiligt. Herausforderer Anatoli Karpov benutzt einen Fidelity Elite Version 10 bei der Eröffnungsvorbereitung und zur Analyse von Hängepartien.

Mit Tom Fürstenberg ist Exweltmeister Karpov seit vielen Jahren befreundet. Im Mai besuchte er den Benelux-Fidelity-Vertreter in Belgien und hatte Gelegenheit, mit dem Elite Avant Garde 5 (Multiprozessor) ein wenig herumzuexperimentieren. Fürstenberg zeigte ihm dabei, dass die Maschine Stellungen aus seinen eigenen Partien hervorragend behandelt. So fand der Avant Garde den Glanzzug Sb5! Aus der Partie Karpov-Jusupov, Linares 1989, noch schneller als Anatoli selber am Brett;  und der Computer zeigte Timmans Sh4? In der ersten Partie des Kandidaten-Matches in Kuala Lumpur fast sofort als Fehler an.

Karpov war von der Maschine derart beeindruckt, dass er Fürstenbergs Vorschlag, Fidelity könne ihm für die Zeit der Weltmeisterschaft eine 68040-Version des Programms zur Verfügung stellen, mit Begeisterung annahm. Die Gegenleistung: Fidelity dürfte öffentlich bekannt geben, dass Karpov den ganz regulären, im Fachhandel erhältlichen Elite Avant Garde Version  10 bei der Weltmeisterschaft einsetze.

Karpov wollte den Rechner zwei Wochen vor Beginn des Wettkampfes bereits in seinem Trainingslager haben. Aber Fidelity hatte noch keine 68040 vom Hersteller Motorola erhalten. Fürstenberg flog nach New York, wo die erste Hälfte des Matches abgehalten wurde, und richtete für Karpov den bekannten „Fidelity-Aquarium“, einen in Plexiglas eingebauten Prototypen, ein. Aber schon sehr bald konnte Firmenchef Sid Samole nach New York kommen und Karpov die allererste 68040-Maschine überreichen, die vom Fließband lief.

Der neue Spitzen-Fidelity schöpft wahrhaftig aus dem Vollen: CPU 68040 – einer der ersten von Motorola freigegebenen Superchips (der in der Karpov-Maschine enthaltene Prozessor trug noch die Bezeichnung „Muster“). Taktfrequenz:extern 25 MHz, intern 50 MHz. Zwei Cache-Speicher, 1 Megabyte Hashtables. Das Programm ist noch von den Spracklens und das gleiche wie im Elite. Die Suchgeschwindigkeit erreicht jetzt bis zu 50.000 Stellungen in der Sekunde, gegenüber bisher 20.000 für die schnellste Fidelity-Maschine.

Auch Normalsterbliche  können laut Fidelity die Wundermaschine demnächst bestellen. In den USA soll sie 11.000,- US-Dollar kosten (also geringfügig mehr als das Wunderauto Saturn von Gerneral Motors), in Benelux bietet Fürstenberg den Elite 10 für 19.995,-  Holländische Gulden an. Hierzulande sollten Interessenten Verhandlungen mit Fidelity Deutschland (sprich Ossi Weiner) aufnehmen. Die Geräte werden einzeln von Fidelity-Ingenieur Ron Nelson angefertigt, nachdem die Kundenbestellung eingegangen ist. Eine Demoversion wird demnächst (nach dem Match in Lyon) bei Tom Fürstenberg in Lasne, Belgien, zur Verfügung stehen.

Positive Einstellung zum Computer

In New York bestand die Arbeit von Fürstenberg darin, Stellungen einzugeben, die der Elite Avant Garde 10 auf der Analysestufe untersuchte. Die Ergebnisse wurden dann dem Karpov-Sekundanten Ron Henly übergeben, der sie an den Meister weiterreichte. Fürstenberg mußte außerdem Henly den Umgang mit der Maschine beibringen, da er nicht die ganze Zeit im Karpov-Camp verweilen konnte.

Anfänglich waren die anderen Sekundanten Karpovs recht skeptisch über das Experiment. Sie mokierten sich über die Strategien des Computers in Blitzpartien gegen Henley, mussten aber gleichzeitig erleben, dass er einige davon verlor. Allmählich begannen sie, die Analysen des Mikros doch noch zur Kenntnis zu nehmen und in die Vorbereitung einzubeziehen. Karpov selbst war über manche Ergebnisse überrascht und entwickelte eine sehr positive Einstellung zur Maschine. Eine Reihe von Stellungen, die in der Partie gegen Kasparov vorkamen, wurden zuvor von dem Avant Garde bereits untersucht.

Natürlich ist man im Karpov-Team nicht bereit, mit uns über Einzelheiten zu sprechen, und auch Fürstenberg muss sich, mindestens bis zum Ende des Wettkampfes, in Schweigen hüllen. Bekannt ist indes, dass der Rechner in der ersten Partie anstelle von 23.Db3 den Zug 23.b3 fand, womit Karpov seinen Bauern gerettet und möglicherweise den Punkt gewonnen hätte. In der dritten Partie analysierte die Fidelity-Maschne die Abbruchstellung mit der Karpov-Mannschaft folgender Maßen:

8/1p6/3k1bb1/2R3p1/2B2p1p/1Pn1pPP1/7P/4NK2 w - - 0 1

 42.Ta5 fxg3 43.hxg3 hxg3 44.Sg2 b5 45.Ta6+ Ke7 46.Ta7+ Ke8 47.Ta8+ Ld8

Diese Züge, sowohl die schwarzen als auch die weißen, wurden alle vom Rechner korrekt vorausgesagt. Danach sah die Fidelity-Maschine eine andere Remisfortsetzung, als K+K sie am Brett gespielt haben.

Mit der Ankunft von neuen Superprogrammen wird die Frage der Computerunterstützung bei menschlichen Wettkämpfen vermutlich bald neue Aktualität gewinnen. Aber das Fidelity-Experiment beweist schon heute, dass Schachprogramme auf jedem Niveau sinnvoll eingesetzt werden können. Anatoli Karpov hat hier eine Vorreiterrolle gespielt. Wetten, daß bald sehr viele Großmeister es ihm gleichtun?

(Quellenangabe, CSS 6/90 Autor Frederic Friedel)
Diagramm generiert mit Fritz 7 (Chessbase)

 

Was bringt der 68040?

Noch hat kaum einer das Gerät gesehen – aber alle Welt wartet gespannt, was das neue Spitzenmodell von Fidelity bringen wird. Vorerst kann nur vermutet werden, welcher Spielstärkezuwachs durch den stärkeren Prozessor zu erwarten ist. Thomas Wirz versucht eine Einschätzung anhand der technischen Grundlagen der Fidelity-Geräte.

Vor zehn Jahren hätte noch niemand zu denken gewagt, dass heutzutage in einem Schachcomputer so mächtige Hardware wie der Motorola 68040-Prozessor stecken könnte. Natürlich geht man grundsätzlich davon aus, dass ein stärkerer Prozessor die Leistung erhöht, und traut dem Fidelity Elite Avant Garde 10 daher eine Menge zu; aber wie groß wird der Leistungszuwachs denn rein theoretisch maximal ausfallen können.?

Prozessor-Technologie

Schauen wir uns zunächst einmal die Prozessoren und ihr theroretisches Leistungsvermögen näher an. Die Versionen 2 bis 4 von Fidelity laufen jeweils mit einem Motorola MC 68000. Das ist ein 16/32 Bit-Prozessor, der auf 2 Bytes gleichzeitig zugreift. Sein Datenbus ist 16 Bit breit und kann mit 32 Bit-Prozessoren zusammenarbeiten. Die Version 5 arbeitet mit Mulitiprocessing, einem System, das sonst in Großrechenanlagen verwendet wird. Zwei 68000er Prozessoren rechnen theoretisch 1,75 mal so schnell wie ein einzelner.

Theoretisch doppelt so hoch wird die Rechengeschwindigkeit dann bei den Versionen 6 und 7 mit dem 68020, einem 32 Bit-Prozessor, der auf 4 Byte gleichzeitig zugreift. Diese Grunddaten gelten auch für den 68030; er besitzt allerdings zusätzlich einen Befehls- und Datencache, der eine wesentlich schnellere Programmverarbeitung ermöglicht, jedenfalls dann, wenn das Programm auf einem 68030-Assamler entwickelt wird. Bei optimaler Programmanpassung müsste man hier theoretisch eine Steigerung der Rechengeschwindigkeit auf das 3,5fache gegenüber dem 68000 erreichen können.

Doch nun endlich zum momentan wohl schnellsten Mikroprozessor der Welt, dem 68040-Prozessor. Auch das ist ein 32-Bit-Prozessor mit Zugriff auf 4 Bytes gleichzeitig; aber sein Daten- und Befehlscache ist 20mal größer als der des 68030. Wird er optimal genutzt, müßte sich eine Verdoppelung der Geschwindigkeit gegenüber dem 68030 ergeben, also gegenüber dem 68000 eine Erhöhung um den Faktor 7. Und das ist wirklich eine ganze Menge!

Rechengeschwindigkeit und Spielstärke

Was kann man nun von stärkeren Prozessoren an Spielstärkezuwachs erwarten? Betrachten wir doch einmal zum Vergleich den Unterschied zwischen der Version 9 (68030-Prozessor) und dem Mach IV (68020-Prozessor). Auf der Elo-Skala beträgt er nur etwa 30 Punkte – obwohl theoretisch die Rechengeschwindigkeit der Version 9 fast doppelt so hoch ist. Daraus läßt sich allerdings nicht schließen, dass der stärkere Prozessor „nichts bringt“. Man bedenke, daß die Programme nachder Brute Force-Methode arbeiten. Wenn also beispielsweise die 16 Bit-Version mit 16 MHz im Mittelspiel etwa 7 Halbzüge tief rechnet, bringt eine Verdoppelung der Rechengeschwindigkeit angesichts der Vervielfachung der Zugmöglichkeiten mit dem nächstenHalbzug kaum eine größere Rechentiefe. So ist es kein Zufall, wenn die Version 5 (2 x 68000, 16 MHz) und Version 9 identische Partien spielen, wie z.B. gegen Van der Vliet (CSS 4/90; Seite 46). Solange die Programme sich auf die Brute Force-Methode beschränken, kann sich die Erhöhung der Geschwindigkeit nicht deutlich als Spielstärkezuwachs fühlbar machen.

Ein praktischer Vergleich

Da die neue Version 10, wie gesagt, bisher nicht greifbar ist, sollen ein paar kleine Tests mit den anderen Versionen zeigen, wie weit sich die theoretische Leistungssteigerung in der Praxis wiederfinden lässt.

Als ersten Test habe ich die Stellung aus der Partie Runau-Schmidt, 1972, (CSS 3/90, S. 28) gewählt, die sich nach 1.e4 Sc6 2.d4 d5 3.exd5 Dxd5 4.Sf3 Lg4 5.Le2 0–0–0 6.c4 Dh5 7.d5 Lxf3 8.Lxf3 De5+ 9.Le3 Dxb2

2kr1bnr/ppp1pppp/2n5/3P4/2P5/4BB2/Pq3PPP/RN1QK2R w KQ - 0 9

ergibt. Hier soll 10.0-0 gefunden werden, was im Brute Force-Verfahren sehr schwierig ist. Mephisto Portorose brauchte dafür mit selektivem Suchverfahren 21 Stunden, was für die Fidelity-Geräte natürlich nicht zu schaffen ist. Ihre Ergebnisse sind:

Version 6 68020 mit 20 MHz   72 Std. 12 Min.

Version 6 68020 mit 28 MHz   60 Std. 17 Min.

Version 9 68030 mit 32 MHz   59 Std. 13 Min.

Version 9 68030 mit 44 MHz   57 Std. 48 Min.

Interessant sind hier nicht die absoluten Zeiten, sondern der Zeitvergleich: Rein theoretisch-rechnerisch hätte hier Serienversion 9 nur unwesentlich mehr als die halbe Zeit der Serienversion 6 benötigen dürfen......

Meine zweite Teststellung ist CSS-Lesern gut bekannt; es geht wieder einmal um die Stellung aus der Partie Karpov-Chandler, TV-World-Cup 1983, vor dem 28. Zug von Schwarz



1br3k1/p4p2/2p1r2q/3p1bp1/3Bn3/1P2P1P1/P3Q1BP/2R1NRK1 b - - 0 1

Um 28. ...... Dxh2 zu finden, verbrauchten die Geräte folgende Rechenzeiten:

Version 2 68000 mit 16 Mhz   20 Sek.

Version 6 68020 mit 20 MHz    9 Sek.

Version 6 68020 mit 28 MHz    7 Sek.

Version 9 68030 mit 32 MHz    7 Sek.

Version 9 68030 mit 44 MHz    6 Sek.

Hier liegt Version 6 mit ihrer Zeit im theoretischen Rahmen; die beiden Versionen 9 kommen jedoch an ihre theoretischen ca. 5 Sekunden nicht heran. Wo bleibt die Rechengeschwindigkeit?

Es kann eigentlich nicht nur an der Programmstruktur liegen, wenn die theoretischen Geschwindigkeitsgewinne in der Praxis nicht zu finden sind. Lassen Sie uns nochmals auf die Hardware zurückkommen: Der wesentliche Unterschied zwischen dem 68030- und dem 68020-Prozessor liegt im Datencache der stärken Version. Der Datencache kann jedoch, wie gesagt, nur dann seine Effektivität beweisen, wenn das Programm entsprechend auf ihn zugeschnitten ist. Die obigen Rechenzeiten vermitteln aber eher den Eindruck, dass Fidelity wohl auf eine Programmanpassung verzichtet hat. Man erinnert sich: Die Spracklens haben Fidelity verlassen. Kann es angehen, dass das Programm bei der Version 9 schlicht mit dem der Version 6 identisch ist? Dann könnte auch der stärkste Prozessor nichts Wesentliches erreichen......

Fazit

Was ist nach all dem von der Version 10 zu erwarten? Wenn hier wieder im Prinzip das unveränderte Version 6 Programm verwendet wird, fürchte ich, dass der 68040-Prozessor im Spielbetrieb kaum wirklich genutzt werden kann – ich schätze den Geschwindigkeitsgewinn auf ca. 30%. Dabei könnten bei optimaler Programmierung an die 40-50.000 Knoten pro Sekunde erreicht werden. Deutlich mehr an Schachwissen könnte gespeichert werden. Kurz: theoretisch wären einige Träume von Schachcomputerfans zu realisieren. Vorausgesetzt, es beschäftigt sich zumindest Systemprogrammierer mit der Anpassung des Programms an die Hardware.

Für Analysezwecke anderseits dürfte die Version 10 wohl für die nächste Zeit ziemlich konkurrenzlos dastehen. Hier kann gerade die Brute Force-Struktur durch Aufdecken taktischer Feinheiten oft ganz neue Perspektiven eröffnen; was, nebenbei bemerkt, auch der Verwendungszweck der Version 10 bei Anatoli Karpov sein dürfte, der eines der bisher vier Geräte besitzt. Bleibt zu hoffen das Fidelity eines Tages auch noch eine Programmoptimierte Version 10 auf den Markt bringen wird; denn ein solches Gerät könnte auch im Partieschach ein ernstzunehmender Gegner der Mephistos werden. Gute Ansätze sind schließlich vorhanden; die Stäörken z.B. des 68030 Avantgarde mit Singular Extensions zeigt die folgende Partie mit Mattankündigung:

Fidelity V9, 44 MHz - Mephisto Portorose 68030, 36 MHz [D11]

Turnierstufe, 1990

1.d4 d5 2.c4 dxc4 alle Mephisto Portorose wie auch schon Almeria spielen diese Variant gerne 3.Sf3 c6 4.e3 Lg4 5.Lxc4 e6 6.Sc3 Sd7 7.h3 Lh5 8.0–0 Sgf6 9.e4 Lb4 10.Lg5 h6 11.Lxf6 Dxf6 12.Le2 Lxf3 13.Lxf3 0–0–0 erweist sich im Partieverlauf als zweischneidig; der Koenig steht in einer solchen Stellung wohl am besten im Zentrum 14.Se2 Sb6 15.Db3 De7 16.a4 zielt darauf ab, die Koenigsposition durch Provokation von a5 zu schwaechen 16...a5 17.Tfc1 Dg5 hier steht die Dame nicht gut; es besteht kein Grund sie aus dem Zentrum zu nehmen 18.Tc2 Thf8 19.g3 Kb8 20.Lg2 h5 21.f4 De7 22.De3 f6 23.f5 exf5 24.Df4+ Ka7 25.Dxf5 Df7 26.Df2 f5 27.e5 g5 28.d5 f4 29.gxf4 gxf4 30.Sd4 f3 31.Dxf3 Dg8 32.Dxh5 Sxd5 33.De2 Tde8 34.Sxc6+ bxc6 35.Txc6 Te7 36.Da6+ Kb8 37.Tb6+ Sxb6 38.Dxb6+ Kc8 39.Tc1+ Lc3 40.Txc3+ Dc4 41.Txc4+ Kd7 42.Dc6+ Kd8 43.Dc8# 1–0

Quellenangabe, CSS 6/90 Autor Thomas Wirz)
Diagramm generiert mit Fritz 7 (Chessbase)

 

Die Wahrheit

Da Thomas Wirz Bericht Mangels Testgerät damals spekulativ war, und ich in der glücklichen Lage bin so ein Gerät zu besitzen. Werde ich hier in Kürze berichten wie weit der Thomas recht behalten hat.

 

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